Wenn Mitgefühl zur Last wird
Empathie ist eine wundervolle Eigenschaft. Sie lässt uns mit anderen fühlen, ihre Freude teilen, ihren Schmerz verstehen, ihre Lasten mittragen. Sie verbindet uns miteinander und macht uns menschlich. Doch manchmal geschieht etwas, das wir nicht sofort bemerken: Aus Empathie wird eine Last. Eine unsichtbare Bürde, die uns immer tiefer in die Sorgen und Ängste anderer hineinzieht, bis wir unsere eigenen Bedürfnisse kaum noch wahrnehmen. Dann sprechen wir von toxischer Empathie – und genau das passiert oft schleichend, fast unmerklich, bis wir uns selbst kaum noch spüren.
Vielleicht haben Sie das auch schon erlebt. Sie sind die Person, an die sich andere wenden, wenn sie Hilfe brauchen. Sie sind die, die zuhört, die tröstet, die alles stehen und liegen lässt, um für andere da zu sein. Doch wenn Sie abends zur Ruhe kommen, fühlen Sie sich leer, ausgebrannt, vielleicht sogar verloren. Und dieser Gedanke schleicht sich ein: „Warum ist niemand für mich da, wenn ich jemanden brauche?“ Genau hier beginnt das Problem. Sie geben so viel, dass Sie nichts mehr für sich übrig haben. Toxische Empathie – ein Begriff, der beschreibt, was passiert, wenn Mitgefühl uns mehr schadet als stärkt.
Es ist wichtig, den Unterschied zu verstehen. Gesunde Empathie bedeutet, mitzufühlen, ohne sich selbst aufzugeben. Sie schafft Nähe, ohne unsere eigenen Grenzen zu verletzen. Toxische Empathie hingegen lässt diese Grenzen verschwimmen. Wir übernehmen die Gefühle anderer, als wären sie unsere eigenen. Ihre Sorgen, ihre Ängste, ihre Schmerzen – sie werden zu einer Last, die wir auf unseren Schultern tragen, bis sie uns erdrückt. Doch warum passiert das überhaupt? Die Antwort liegt oft in der Vergangenheit.
Viele von uns haben schon früh gelernt, dass die Bedürfnisse anderer Vorrang haben. Vielleicht wurden Sie in Ihrer Kindheit dafür gelobt, wenn Sie sich um andere gekümmert haben, und hatten das Gefühl, dass Ihre eigenen Wünsche und Gefühle weniger wichtig sind. Besonders in unserer Gesellschaft hören wir immer wieder Botschaften wie „Du musst dich kümmern“ oder „Sei doch nicht so egoistisch“. Solche Glaubenssätze verankern sich tief in uns und können dazu führen, dass wir uns selbst vergessen. Wir stellen uns hinten an, weil wir glauben, dass es unsere Aufgabe ist, immer für andere da zu sein. Doch wer kümmert sich um uns?
Die Anzeichen für toxische Empathie sind oft deutlich, wenn wir genau hinsehen. Fühlen Sie sich nach Gesprächen mit anderen emotional ausgelaugt? Kreisen Ihre Gedanken ständig um die Probleme anderer, auch wenn Sie gar nichts tun können? Haben Sie Schwierigkeiten, „Nein“ zu sagen, selbst wenn Sie längst erschöpft sind? Und vielleicht am deutlichsten: Haben Sie Schuldgefühle, wenn Sie einmal etwas für sich selbst tun? Wenn das auf Sie zutrifft, sind Sie nicht allein – viele Menschen kämpfen mit diesen Gefühlen.
Aber es gibt Wege, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Der erste Schritt ist, zu erkennen, dass Empathie Grenzen haben darf. Sie dürfen mitfühlend sein, ohne die Verantwortung für die Gefühle anderer zu übernehmen. Es ist nicht Ihre Aufgabe, die Welt zu retten. Eine der wichtigsten Lektionen, die wir lernen können, ist, dass „Nein“ sagen nichts mit Egoismus zu tun hat. Es ist ein Akt des Selbstschutzes. Und genau wie Sie anderen helfen, dürfen Sie sich selbst helfen.
Pausen sind dabei kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Gönnen Sie sich bewusst Zeit für Dinge, die Ihnen guttun – sei es ein Spaziergang, ein gutes Buch oder einfach ein Moment der Stille. Überlegen Sie, welche Lasten wirklich Ihre sind und welche Sie loslassen dürfen. Denn oft tragen wir viel mehr mit uns herum, als wir eigentlich müssen.
Vielleicht hilft Ihnen ein kleines Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie tragen einen schweren Rucksack, der mit den Sorgen anderer Menschen gefüllt ist. Wie fühlt sich das an? Jetzt stellen Sie sich vor, Sie nehmen Stück für Stück etwas aus diesem Rucksack heraus – bis er leichter wird. Spüren Sie die Erleichterung? Genau das ist es, worum es geht: sich selbst zu erlauben, loszulassen, was nicht zu uns gehört.
Toxische Empathie entsteht oft über Jahre, aber sie kann auch heilen, wenn wir uns erlauben, Verantwortung abzugeben. Sie dürfen lernen, Mitgefühl zu zeigen, ohne sich selbst zu verlieren. Und Sie dürfen erkennen, dass Ihre eigenen Gefühle genauso wichtig sind wie die der Menschen, die Ihnen am Herzen liegen. Empathie ist ein Geschenk – für andere, aber vor allem auch für sich selbst.